Freitag, 11. März 2011

Das japanische AKW-Inferno


Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes hat Japan den nuklearen Notfall ausgerufen: Mehrere Atomkraftwerke wurden abgeschaltet, in zweien kam es zu schweren Zwischenfällen. Im AKW Fukushima (siehe Bild) fiel das Kühlsystem aus, das Umland wird evakuiert - das Risiko eines Lecks ist am Abend wieder gestiegen. Spiegel Online dokumentierte gegen Freitagabend wie folgt:

Das japanische Atomkraftwerk Fukushima Daiichi hat schwere technische Probleme. Die Atomaufsichtsbehörde Nisa (Nuclear and Industrial Safety Agency) bestätigte, dass der Kühlwasserspiegel des Reaktors sinkt. Nach Angaben eines Mitarbeiters ist die Wasserzufuhr zum Reaktor unterbrochen. Dem Betreiberunternehmen Tepco (Tokyo Electric Power Company) sei es bisher nicht gelungen, die Stromversorgung für das Kühlwassersystem wieder herzustellen. Im schlimmsten Fall könnte eine Kernschmelze drohen. Japans Regierungschef Naoto Kan hat den nuklearen Notfall ausgerufen - zum ersten Mal in der Geschichte des Landes.

Die Betreiberfirma Tepco erklärte nach Angaben der Nachrichtenagentur Jiji News, im Reaktor Nummer Eins sei der Druck nach einem Zwischenfall angestiegen. Es bestehe auch das Risiko eines Strahlungslecks. Man arbeite daran, den Druck im Reaktor wieder zu senken. Nach Angaben der japanischen Zeitung "Asahi" erwägt die Firma konkret, Dampf aus dem Reaktor abzulassen. Wenn diese Strategie umgesetzt wird, dann dürfte Radioaktivität nach draußen entweichen.

Die japanische Regierung hatte zuvor erklärt, es seien keine radioaktiven Lecks festgestellt worden. Man habe den Notstand ausgerufen, damit die Behörden leicht Notfallmaßnahmen ergreifen können, so Regierungssprecher Yukio Edano. "Wir wollen auf das Schlimmste vorbereitet sein. Wir tun alles in unserer Macht stehende, um mit der Situation fertig zu werden." In Japan muss ein nuklearer Notstand ausgerufen werden, wenn Strahlung austritt, der Kühlwasserstand einen gefährlichen Wert erreicht oder das Kühlsystem ausfällt.

Wie die Nachrichtenagentur AP berichtet, war nach dem Erdbeben nicht nur der Hauptstrom, sondern auch ein Notstromaggregat ausgefallen, was zum Versagen des Kühlsystems geführt habe. Der US-Nachrichtensender CNN zitiert Edano mit der Aussage, die Kühlung des Reaktors laufe "nicht nach Plan". Westliche Experten zeigten sich zutiefst beunruhigt über diese Entwicklung, denn selbst nach einer Schnellabschaltung ist ein Atomreaktor in seinem Inneren noch extrem heiß und muss weiterhin gekühlt werden.

"Bei einem totalen Stromausfall funktioniert kein Sicherheitssystem mehr", sagte Lars-Olov Höglund, der zehn Jahre lang Chefkonstrukteur der Atomkraftwerke des Vattenfall-Konzerns war, zu SPIEGEL ONLINE. "Wenn das passiert, ist es aus." Die Folge wäre unweigerlich eine Kernschmelze. Ähnlich äußerten sich der Greenpeace-Reaktorexperte Heinz Smital, ein Mitarbeiter der IAEA und Mycle Schneider, Autor des renommierten "World Nuclear Industry Status Report 2009". "Die Restzerfallswärme ist ungeheuer groß, nämlich sieben Prozent der Kraftwerksleistung", sagte Schneider, der mehrere Dutzend Male als Atomgutachter in Japan war.

Das Kernkraftwerk Fukushima besteht aus sechs Siedewasserreaktoren und ist damit eines der größten der Welt. Die Betreibergesellschaft Tokyo Electric Power Company gibt auf ihrer Website an, dass bei drei der sechs Reaktoren alle Notstrom-Generatoren ausgefallen seien. Man habe die Meiler daraufhin geflutet. Der Industrieverband World Nuclear Association meldete, man habe erfahren, dass die Situation unter Kontrolle sei. Allerdings ist der Verband - ebenso wie die Internationale Atomenergiebehörde IAEA - auf Informationen aus Japan angewiesen. "Die würde ich zurzeit mit der Pinzette anfassen", warnte Atomexperte Schneider.

Nach Angaben der japanischen Atomaufsicht hat die Betreiberfirma drei oder vier Generatorenfahrzeuge vor Ort. Diese könnten aber nicht angeschlossen werden, weil ein passendes Kabel fehle. Derzeit werde versucht, dieses Kabel per Flugzeug herbeizuschaffen. Gleichzeitig versuche das Unternehmen, aus einem anderen Kernkraftwerk eine Ersatzbatterie für den Notbetrieb des Kühlsystems zu dem havarierten AKW zu bringen.

Die Kölner Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit berichtet unter Berufung auf japanische Angaben, dass das Notkühlsystem des AKW nur noch im Batteriebetrieb laufe - und dass die Energiezellen nur noch Strom für wenige Stunden liefern könnten. "Im allerschlimmsten Fall droht dann eine Kernschmelze", sagte GRS-Sprecher Sven Dokter. In diesem Fall werden die Brennstäbe im Reaktorkern so heiß, dass sie schmelzen. Es kann dadurch zu einer unkontrollierten Kettenreaktion und schlimmstenfalls zur Explosion des gesamten Reaktors kommen, wie es bei der Katastrophe von Tschernobyl 1986 passiert ist.

Für die japanischen Atom-Fachleute ist es ein Wettrennen gegen die Zeit: Sie müssen innerhalb kürzester Zeit die Stromversorgung der Kühlmittelpumpen wieder anwerfen. Sören Kliem vom Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf erklärte im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE, ungefähr fünf bis sechs Stunden nach dem kompletten Ausfall des Kühlsystems drohten gravierende Probleme. Zumindest in Deutschland würde man bei Problemen der Stromversorgung im Kühlsystem zunächst auf Dieselgeneratoren setzen, so Kliem. Erst wenn das auch nicht funktionierte, kämen Batterien zum Einsatz - sozusagen als allerletztes Mittel, um eine gefährliche Überhitzung der Kernbrennstäbe zu verhindern.

Mit den Notstromdieseln hat es offenbar Probleme gegeben - und auch die Batterien schwächeln. "Nach unseren Informationen wurde bewusst ein Kühlsystem abgeschaltet, um die Batterien zu schonen", sagte Henrik Paulitz von der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW am Freitagnachmittag. Zum Betrieb der Kühlpumpen seien große Strommengen erforderlich. Die Batterien könnten diese aber kaum liefern, weil sie eigentlich vor allem dafür gedacht seien, die Steuerung des Reaktors aufrechtzuerhalten. Dazu komme, dass es an dem betroffenen Reaktor offenbar ein Leck im Kühlkreislauf gebe, aus dem Kühlmittel entweiche, so Paulitz. "Das ist ein ziemlicher Hammer." Eine Prognose sei derzeit nur schwer abzugeben. Greenpeace teilte am Freitagabend mit, die Situation sei nach wie vor kritisch. Eine Sprecherin sagte, angeblich würden Brennstäbe bereits zwei Meter aus dem Wasser ragen.

Die japanischen Behörden haben die Evakuierung des Gebiets im Umkreis von drei Kilometern um die Atomanlage Fukushima angeordnet. Wer zwischen drei und zehn Kilometer entfernt wohnt, wurde aufgefordert, im Haus zu bleiben. Mindestens 2800 Menschen sollen von den Maßnahmen betroffen sein. Nach japanischen Medienberichten hat die Regierung Armeeeinheiten geschickt, um die Evakuierung zu unterstützen.

Nach dem Erdbeben war es auch in einem anderen Atomkraftwerk zu einem Zwischenfall gekommen: Im AKW Onagawa war an einem Turbinengebäude ein Feuer ausgebrochen. Die betroffenen Bereiche seien aber vom Reaktordruckbehälter räumlich getrennt, erklärte Tohoku Electric Power, der Betreiber der Anlage. Inzwischen haben die Behörden nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt, dass der Brand gelöscht sei. Strahlung soll nicht ausgetreten sein.

In Japan sind 54 Reaktoren an 14 verschiedenen Standorten am Netz. Drei weitere AKW sind im Bau, elf werden geplant. Da Japan zu den erdbebenreichsten Ländern der Erde zählt, gelten dort besonders hohe Anforderungen an die Sicherheit der Kraftwerke. Bei Erdstößen werden Reaktoren automatisch abgeschaltet. Trotzdem kam es in der Vergangenheit nach Erdbeben zu Störfällen.

2007 etwa wurden nach einem Beben in der Provinz Niigata 50 technische Defekte in der weltgrößten Atomanlage Kashiwazaki-Kariwa gemeldet. Unter anderem war aus einem Leck radioaktiv belastetes Wasser ins Meer geflossen. Zudem fing ein Transformator außerhalb der Reaktorhallen Feuer. Es war bis dahin der erste Brand in einem japanischen Atomkraftwerk infolge eines Erdbebens.

Quelle: Spiegel Online mit Material von dapd, dpa und AP

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